„Pestizidtirol“ – Auswertung der Daten von Apfelbau-Betrieben aus dem Vinschgau

Wie hoch der ökologische Preis für makellose Äpfel ist, zeigt die Auswertung der Spritzhefte, die im Südtiroler Pestizidprozess gegen(!) das Umweltinstitut sichergestellt wurden. 

Aktenordner mit Betriebsheften

© Jörg Farys

Im intensiven Apfelanbau kommen für Umwelt und Gesundheit hochproblematische Pestizide in teils hoher Frequenz und Kombination zum Einsatz. Das zeigen konkrete Daten von 681 Apfelanbaubetrieben aus der Region Vinschgau aus dem Jahr 2017, die – unser Kartoffelkombinat-Mitglied – das Umweltinstitut München e.V. im Rahmen des Südtiroler Pestizidprozesses erhalten und ausgewertet haben. 

Fabian Holzheid, politischer Geschäftsführer des Umweltinstituts, hat sich die Zeit genommen, unsere Fragen zu beantworten.

KK: Was hat Euch bei der Auswertung am meisten überrascht?

FH: Uns war aus vergangenen Messprojekten und Recherchen schon bewusst, dass es in der Region ein massives Problem mit Pestiziden gibt. Aber dass es eine über sieben Monate andauernde, tägliche Belastung mit teilweise hochproblematischen Stoffen gibt, das hat uns doch alarmiert. Und dass bis zu neun Wirkstoffe als Cocktail an einem Tag in der gleichen Plantage landen, macht die Sache sicher nicht besser.

KK: Könnt Ihr einschätzen, ob sich die Ergebnisse auch auf andere Regionen und/oder Obstkulturen übertragen lassen?

FH: Unsere Ergebnisse werfen ein sehr intensives Schlaglicht auf ein intensiv bewirtschaftetes Obstbaugebiet. Wir haben aufgrund der mangelnden Datentransparenz über Pestizideinsätze aber bisher keine Vergleichsdaten aus anderen Regionen und Kulturen. Da tut sich inzwischen aber etwas: Der NABU und das Umweltinstitut haben in Deutschland im letzten Jahr jeweils Gerichtsverfahren gewonnen, in denen wir in Baden-Württemberg beziehungsweise Brandenburg auf die Herausgabe solcher Daten klagten. Jetzt gibt es Präzedenzurteile, so dass die Wissenschaft hoffentlich bald detaillierte Erkenntnisse über die Auswirkungen der realen Pestizideinsätze liefern kann.

KK: Was fordert Ihr jetzt von der Politik? 

FH: In Südtirol muss die Politik jetzt erst einmal die gefährlichsten Pestizide aus dem Verkehr ziehen. Und Herbizide, also Unkrautvernichter, braucht es im Obstbau eigentlich gar nicht, da ließe sich mit einem Verzicht zugunsten mechanischer Verfahren viel Gift einsparen. Aber wir müssen die großen Räder drehen: Die EU haben wir gerade mit der Europäischen Bürgerinitiative „Save bees and farmers“ zu einem Komplettverbot chemisch-synthetischer Pestizide bis allerspätestens 2035 aufgefordert. Wichtig ist auch, dass wir die EU-Agrarsubventionen so ausrichten, dass sich naturverträgliches Wirtschaften lohnt.

KK: Worauf sollte man beim Einkauf achten, reicht es, einfach Bio zu kaufen?

FH: Generell gilt: Je höher die Standards, desto besser. Bio ist in der Regel besser als konventionelle Ware, und Verbandsware hat oft noch strengere Anforderungen als Ware mit dem EU-Biosiegel. Wir müssen aber davon wegkommen, die Verantwortung immer auf die Verbraucherinnen und Verbraucher zu schieben. Es sollte im Handel gar keine Lebensmittel zu kaufen geben, deren Preis die Zerstörung der Ökosysteme unseres Planeten ist. Wir blicken natürlich mit großer Sympathie auf Projekte der solidarischen Landwirtschaft, die regional und gemeinwohlorientiert arbeiten und den Wandel so schon vorleben.

KK: Ihr habt ja nicht nur Auswertungen gemacht, sondern wurdet von 1.376 Erzeugern in Südtirol verklagt. Der Prozess hat das Umweltinstitut hunderttausende Euro gekostet. Habt Ihr einen Paypal-Account für Schützenhilfe?

FH: Ohne die Solidarität tausender Menschen hätten wir diesen Prozess nicht durchgestanden und schon gar nicht gewonnen. Der Landesrat Arnold Schuler, der uns angezeigt hat, hat nach der Veröffentlichung der Pestiziddaten angekündigt, auf rechtliche Schritte zu verzichten, weil das erfahrungsgemäß „die Probleme noch verstärkt“. Das ist doch ein ganz wunderbarer Lernerfolg für den Landesrat.

Wer uns unterstützen möchte, kann das hier www.paypal.me/umweltinstitut oder hier www.umweltinstitut.org/unterstuetzen/online-spenden/ tun.


Ein erstes Fazit
Der Preis, den die Menschen und die Umwelt im Vinschgau für die Massenproduktion von Äpfeln zahlen, ist (zu) hoch. Denn der kontinuierliche Einsatz von Pestiziden in den Apfelplantagen schädigt die Artenvielfalt und gefährdet die Gesundheit von Anwohner*innen und Urlaubsgästen, und nicht zuletzt die der Obstbauer*innen selbst. In seinem Bericht gibt das Umweltinstitut deshalb auch Empfehlungen, was sich in der Landwirtschaft in Südtirol, aber auch in Europa insgesamt tun muss, damit sie sich endlich aus der Abhängigkeit von Ackergiften befreien kann.

Den gesamten Bericht findet Ihr hier.

Auch der BR und die Süddeutsche Zeitung haben die Aufarbeitung der Auswertung veröffentlicht und unter anderem in einem Beitrag für „Kontrovers“ thematisiert.

Der regulatorische Abstand

In der letzten Kartoffelakademie sprach Karl Bär vom Umweltinstitut München über den Regulatorischen Abstand. Was im ersten Moment verdächtig nach „eine Armlänge“ klingt, ist jedoch ein wirklich interessanter Umstand, der eines der Hauptprobleme von TTIP darstellt.

In den Medien wird im Zusammenhang mit dem Freihandelsabkommen gerne exemplarisch das Chlorhühnchen durchs Dorf getrieben. Doch als Bio-KäuferInnen und ggf. Nicht-Huhn-EsserInnen ist man gerne verleitet, sich von derlei chemisch keimfrei gewaschenen Fleischstücken nicht den Appetit verderben zu lassen. Hat ja nichts mit einem selbst zu tun und von tierethischen Aspekten abgesehen, ist es letztlich das Problem von Billigfleischkäufern, oder? Nein, ist es nicht.

Schauen wir uns hierzu das System der Lebensmittelerzeugung an (ist aber in anderen Branchen analog): Die unterste Qualitätsgrenze stellen die rechtlichen Mindestanforderungen dar, welche konkret definiert sind. Dann folgt ein weites Feld, in dem sich die zahlreichen konventionellen Marken tummeln und in dem jeder Hersteller eigene Qualitätskriterien für sich formulieren kann. Zusätzlich gibt es EG-Bio, mit ebenfalls klar festgelegten Kriterien und darüber kommen die Anbauverbände wie Naturland, Bioland oder demeter. Darüber hinaus können noch regionale und/oder saisonale Aspekte eine Rolle spielen. Allgemein kann davon ausgegangen werden, dass eine bessere Qualität das Ergebnis von höherem Aufwand in der Erzeugung ist. D.h. je weiter man auf der Qualitätsskala nach oben kommt, desto teurer werden die Produkte.

regulatorischer Abstand

Regulierte Erzeugung – hinzu kommen z.B. noch Regionalität und/oder Saisonalität

Die rechtlichen Definitionen, die wie gesagt zum einen die Mindestkriterien und zum anderen die Bio-Level regulieren, sind aber nicht in Stein gemeißelt. Derjenige konventionelle Hersteller, der sich unten gerade noch am legalen Limit bewegt, kann am billigsten produzieren und hat ein großes Interesse an einer Deregulierung dieser rechtlichen Bedingungen, um noch billiger zu erzeugen. So weit, so klar – zurück zum Chlorhuhn: Wenn ich am Ende mein Fleisch keimfrei im Desinfektionsbad waschen darf, kann ich in den vorgelagerten Prozessen weniger Wert auf Hygiene und Sorgfalt legen. Ergo wird die Produktion billiger. Der Abstand vom untersten Limit zu den nächsten Levels wird dadurch größer. Je weiter nun die Preise für konventionelle Produkte von deren Bio-Varianten entfernt sind, desto geringer wird im Gegenzug die Bereitschaft „des Konsumenten“ den hohen Mehrpreis für Biolebensmittel zu bezahlen.

Diesen regulatorischen Abstand möchte die Industrie, die EU und die USA so groß wie möglich haben bzw. die rechtliche Grenze nach unten verschieben – da ist man sich einig. Und schon ist das Chlorhuhn auch ein Problem für alle, die sowas zwar nicht essen, sich aber generell den Ausbau von Ökolandbau, faire Arbeitsbedingungen verantwortungsbewusste Unternehmen wünschen. Insoweit hat die IHK Bayern (Zitat: „Die Verhandlungen dürfen nicht zu früh von wirtschaftsfremden Themen, wie z.B. vom Verbraucherschutz, überlagert werden.“) schon Recht – es geht um viel mehr als nur um Chlorhühner.

Getreide wird mit Roundup „reif gespritzt“

Neulich erzählte mir ein Landwirt, dass aus Arbeitseffizienzgründen die Getreidefelder kurz vor der Ernte „totgespritzt“ werden. Auf meine Nachfrage hin, was er damit meint, erhielt ich die Erklärung, das Getreide müsse bei Großbauern gleichzeitig reifen, es dürfe eben nichts mehr wachsen und so etwas gehe nur mit massivem Gifteinsatz.

Verwirrt, aber als Bio-Kunde bestätigt, habe ich diesem Thema erstmal keinen weiteren Gedanken gewidmet … bis mich soeben der Newsletter des Umweltinstituts erreichte:
„Die Getreideernte steht vor der Tür. Und nur wenige Tage zuvor spritzen viele Landwirte pures Gift auf Getreideflächen. Roundup oder andere glyphosathaltige Mittel werden eingesetzt, um den wenigen Unkräutern, die bis dahin überlebt haben, nun den Garaus zu machen. Ebenfalls empfohlen wird eine Giftdusche vor der Ernte, damit das Getreide zum gewünschten Termin „reif“ ist.

Da sich die Pestizide nicht so rasch abbauen, enthält das frisch geerntete Getreide noch jede Menge des aggressiven Pflanzengifts. Eine Kontrolle des Getreides auf Giftrückstände findet jedoch so gut wie nicht statt. Und so landen die giftigen Stoffe direkt auf unseren Tellern und in den Trögen der Tiere.

Dieser Missstand betrifft uns alle – die Bürgerinnen und Bürger, die die giftigen Lebensmittel essen, sowie die Landwirtinnen und Landwirte, die zu Verbündeten der Gift-Konzerne werden. Dennoch scheuen sich viele Medien, über das hochbrisante Thema zu berichten. Vielleicht weil die Werbeaufträge der Konzerne wegfallen könnten? Lieber krankmachendes Essen für alle, als weniger Einnahmen?“

Beim Abspielen des Videos werden Deine IP Adresse und möglicherweise weitere personenbezogene Daten an Dritte übertragen.

Dazu fällt mir ein Spruch von Volker Pispers ein: „Was meinen Sie, was hier los wäre, wenn mehr Menschen begreifen würden, was hier los ist?“